
Der Atem...
... der uns atmet
Eine vergessene Verbindung zum Lebensprozess

Unsere früheste Prägung zum Thema Atmung entstammt oft einer mechanischen Vorstellung:
Ein Zwerchfell, das wie ein Lederläppchen einer Luftpumpe auf und ab bewegt wird, Luft einsaugt und wieder herauspresst. Dieses vereinfachte Bild, erst durch Spiegelneuronen eingeprägt und später durch den Biologieunterricht verfestigt, verdeckt ein grundlegenderes Verständnis unserer Atemfunktion.Betrachten wir unseren Körper genauer, fällt auf: Der Mund ist anatomisch für drei Funktionen gestaltet – zur Nahrungsaufnahme, zum Trinken und zum Sprechen oder Singen. Für die Atmung ist er nur im Notfall vorgesehen. Die Nase hingegen ist unser eigentliches Atemorgan, das einen Zugang zu einem völlig anderen Atemerleben ermöglicht.
Bei aufmerksamer Selbstbeobachtung zeigt sich ein erstaunliches Phänomen: Es ist nicht so, dass wir aktiv ein- und ausatmen. Vielmehr werden wir geatmet. Etwas, das dimensional größer ist als unser individuelles Selbst, schafft Raum in uns und bewegt unseren Atemapparat. Nicht wie ein äußerer Impuls, der in uns hineinbläst, sondern wie eine umfassende Kraft, die Raum für sich in uns schafft und sich wieder löst.Dieser Vorgang reanimiert uns buchstäblich Minute für Minute. Das lateinische “Animus” – die Kraft, die den Körper vor dem unmittelbaren Zerfall bewahrt – kehrt mit jedem Atemzug zu uns zurück. Dies ist kein mythisches Bild, sondern ein biologischer Prozess. Ohne diese kontinuierliche Reanimation würde unser Organismus schnell die notwendige Energie zum Selbsterhalt verlieren und zerfallen.
Auf molekularer Ebene offenbart sich ein faszinierendes Zusammenspiel. Ein komplexes Molekül, fähig sich wie ein eigenständiges Lebewesen zusammenzuziehen und zu öffnen, existiert in drei verschiedenen Formen: Mit einem zentralen Magnesiumatom wird es zu Chlorophyll in Pflanzen, mit einem Eisenatom zu Hämoglobin in unserem Blut, und mit einem Kupferatom bildet es eine Zwischenstufe in Muscheln und Krebstieren.Diese molekulare Verwandtschaft verdeutlicht: Das Hämoglobin als Sauerstofftransporter in unserem Blut und das Chlorophyll in Pflanzen stehen in einer lebensnotwendigen Wechselbeziehung. Ohne Chlorophyll würde unser Planet am eigenen Kohlendioxid ersticken. Ohne atmende Lebewesen würde die Pflanzenwelt den notwendigen Kohlenstoff verlieren.Kohlendioxid war die primäre energetische Grundlage für die Entstehung des Lebens – vergleichbar mit dem, was in verschiedenen Traditionen als Lebensenergie bezeichnet wird. Erst mit der Entwicklung komplexerer Lebensformen entstand aus diesem Kohlendioxid der Sauerstoff. Die Mitochondrien in unseren Zellen, evolutionäre Zeugen ursprünglichen Lebens, wandeln diesen wiederum zurück in das Kohlendioxid, das die Pflanzenwelt benötigt.
So wird deutlich: Wir sind keine isolierten Wesen, wie es unser Ego uns oft erleben lässt. Vielmehr sind wir eingebunden in einen umfassenden biologischen Kreislauf und wirken daran mit – durch unseren Atem und über diesen biologischen Zusammenhang hinaus.
Ein gesunder Atemrhythmus liegt bei etwa fünf Atemzügen pro Minute. Unter Stress erhöht sich diese Rate auf 10, 15 oder sogar 20 Züge. Bei günstigen Umständen, wenn wir uns daran erinnern, dass der Mund nicht zum Atmen gedacht ist, machen wir etwa 300 Atemzüge pro Stunde und etwa 7200 an einem Tag. Ein Drittel davon fällt in den unbewussten Bereich unseres Nachtschlafs, wenn das mentale System ausgeschaltet ist. In dieser Atemverbindung liegt die Möglichkeit, unsere Verbindung zum Leben neu zu erleben. Statt aktiv zu “schnaufen”, können wir die Erfahrung zulassen, geatmet zu werden. Diese Hingabe führt uns zur Erkenntnis, dass wir Teil eines großen Systems sind, in dem jeder Atemzug uns mit dem Ganzen verbindet.
Dieses Atemverständnis bleibt keine abstrakte Erkenntnis, sondern wird zu einer direkt erfahrbaren Realität. Es trägt uns durch alle Phasen unseres Daseins und bietet eine beständige Möglichkeit, die Illusion des abgetrennten Ichs zu durchbrechen. In der bewussten Hingabe an den Atemvorgang erfahren wir: Wir werden nicht nur vom Leben durchströmt – wir sind organischer Teil dieses Stroms selbst.